Von Bücherwürmern und Leseratten

LebensweltenPädagogik neu gedacht

Was das Lesen nicht alles fördert: die Entwicklung von Fantasie, den Spracherwerb, das grammatikalische Verständnis, den Wortschatz, das Gefühl für die Syntax der Sprache, und in weiterer Folge ein besseres Verständnis für Rechtschreibung und Zeichensetzung. Zumindest hieß es früher so, aber das ist doch völlig „old-school“!

Digitale Babysitter – eine echte Gefahr für die Entwicklung des Babys

Jetzt gibt es dafür unzählige Lernprogramme für Tablet und Handy, Geräte, die durch das einfache Wischen schon die Allerkleinsten bedienen können, die Deinem Baby ganz viele „Skills“ beibringen, die die „Digital Natives“ unbedingt können müssen, damit sie später im Leben die Nase vorne haben. Und Sprache lernen die Kleinen natürlich auch von der Computerstimme der KI, am besten gleich auch Englisch und Chinesisch. Richtig?

Ein weiterer großer Vorteil dabei, wenn man sein Kind möglichst früh mit Tablets lernen lässt, ist, dass Eltern Zeit für sich haben, all jene Dinge zu erledigen, zu denen sie nicht kämen, wenn ihr Kind nicht vom elektronischen Babysitter betreut werden würde. Und wie praktisch erst, wenn man unterwegs ist: schnell die Tablet- oder Handyhalterungen am Kinderwagen in Augenhöhe des Kindes montiert und es ist wie paralysiert, schaut nicht links und rechts, nimmt seine Umgebung gar nicht mehr wahr, sondern versinkt im Bildschirm, so ruhig, als wäre es gar nicht da.

Wer es in den letzten beiden Absätzen nicht gemerkt hat: Das war ironisch gemeint. Durch unser modernes Leben und in erster Linie durch die Medien erfahren Menschen aller Altersgruppen innerhalb von 3 Monaten so viele Reize (primär optische und akustische) wie im 19. Jahrhundert innerhalb eines gesamten Lebens. Unser Gehirn spielt zwar dabei mit, aber es ist darauf nicht ausgerichtet. Folgen können sein: Schlafbeschwerden, Ticks, Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, Schwierigkeiten im sozialen Verhalten etc.

Wenn die permanente Bespielung schon Auswirkungen auf Erwachsene hat, kann man sich ausrechnen, um wieviel heftiger die Reize auf Kinder, geschweige denn Babys wirken. Kleinkinder nehmen Medien lediglich als Reizquelle wahr, die Geräusche und Lichteffekte aussenden. Sie können nicht bewusst auf die Eindrücke reagieren. Sie können sich nicht einmal vor Reizüberflutung schützen. In diesem Alter haben sie kein Verständnis für die Bildhaftigkeit der Inhalte. Sie werden damit einfach nur ruhig gestellt!

Was ein Baby wirklich braucht: Interaktion mit Menschen, Spiel und Bewegung

Wenn ein Baby auf die Welt kommt, unterscheidet es sich im Grund nur wenig von einem Steinzeitbaby. Deshalb braucht es auch dieselben Dinge wie Steinzeitbabys, nämlich Liebe, Wärme, Essen, Schlaf, Sicherheit, Umsorgt-Werden, sozialen Austausch, Körperkontakt, Ruhe, Mimik und Gestik sowie eine echte Stimme, die singt und spricht und natürlich authentische Aufmerksamkeit. Letzteres ist im Fachjargon auch als „Joint Attention“ oder „Shared Attention“ bekannt und meint gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit auf ein Objekt oder eine Handlung. Dazu richten beide Beteiligten ihre Sinne auf dieselbe Sache und beschäftigen sich über eine gewisse Dauer damit. Das kann das Beobachten eines Vogels vor dem Fenster sein, ein gemeinsames Spiel, Kekse backen oder ein Kniereiter und natürlich vieles, vieles mehr.

Auch Alltägliches wie Einkaufen gehen kann zum gemeinsamen Erlebnis gemacht werden. Natürlich ist die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes kürzer als jene der Eltern. Dadurch kann es zu Ungeduld im Supermarkt kommen, die aber mit kulinarischer Ablenkung wie einem Stück Obst oder sensomotorischen Angeboten wie dem Kneten einer Kaffeebohnen-Packung oder dem Berühren eines kalten Produkts in Windeseile verfliegt.

Aus meiner Sicht wird einem Baby, das im Geschäft, wo es zigtausend spannende, neue Reize und Eindrücke aufnehmen kann, von denen es profitiert, wo es vom Austausch mit fremden Menschen lernen kann, ganz viel echtes Leben vorenthalten, wenn es von einem Tablet, das ihm bunte Bilder vordudelt, die es noch nicht einmal versteht, bespaßt wird. Ich möchte den Programmierern von Unterhaltungsapps für Kleinkinder keine Profitorientierung unterstellen und gelegentlich mag das eine oder andere Programm darunter sein, das vielleicht wirklich in irgendeiner Weise förderlich sein kann, wenn es nur wenige Minuten lang konsumiert wird, aber aus meiner Sicht sind Lernprogramme für Kleinkinder insgesamt ausgesprochen fragwürdig und völlig unnötig.

Es ist der interaktive zwischenmenschliche Austausch, im Idealfall von wechselnden Bezugspersonen, der Lernfortschritte durch Wiederholungen, andere Stimmlagen, andere Inhalte anregt. Das ist es, was die Sprachentwicklung fördert (siehe auch https://www.idealismprevails.at/die-sprachentwicklung-des-babys/) – nicht die noch so gut programmierte Baby-Lern-App.

Gerade die allerersten Jahre im Leben eines Menschen sind ganz besonders prägend. Hier werden Grundlagen für Verhaltensweisen gebildet, die nicht mehr oder nur mehr sehr schwer abzutrainieren sind. Sie können sogar gesundheitsschädigende Auswirkungen haben, weil sich Kinder daran gewöhnen, weniger zwischenmenschlichen Austausch zu haben, sich weniger zu bewegen, weniger zu spielen und weniger zu schlafen als es für ihre optimale Entwicklung wichtig wäre. Die Folgen dessen verstärken sich bis zum Erwachsenenalter. Derzeit sind 80% der Jugendlichen zu wenig aktiv!

Kinder unter 5 Jahren müssen sich mehr bewegen, mehr schlafen und mehr spielen als sie es in der Regel tun, damit sie sich psychisch und physisch gesund entwickeln. Die Richtlinien zu körperlicher Aktivität, Bewegungsmangel und Schlaf wurden von einem Expertengremium der WHO 2019 entwickelt. Sie bewerten die Auswirkungen von unzureichendem Schlaf und die Zeit, die Kinder damit verbrachten, vor Bildschirmen zu sitzen im Gegensatz zu einem erhöhten Aktivitätsniveau. „Die Verbesserung der körperlichen Aktivität, die Verkürzung der Sitzzeit und die Gewährleistung eines guten Schlafs bei Kindern verbessern ihre körperliche und geistige Gesundheit und tragen dazu bei, Fettleibigkeit bei Kindern und damit verbundene Krankheiten im späteren Leben zu verhindern“ , so Dr. Fiona Bull, Programmmanagerin für Prävention nichtübertragbarer Krankheiten in der WHO.

„Was wir wirklich tun müssen, ist das Spiel für Kinder zurückzubringen“ meint Dr. Juana Willumsen aus der WHO-Abteilung Fettleibigkeit und körperliche Aktivität bei Kindern. „Ersetzen Sie eine längere zurückhaltende oder sitzende Bildschirmzeit durch aktiveres Spielen, während Sie sicherstellen, dass kleine Kinder ausreichend guten Schlaf bekommen. Eine qualitativ hochwertige sitzende Zeit, die mit interaktiven, nicht Bildschirm basierten Aktivitäten mit einer Bezugsperson verbracht wird, wie Lesen, Geschichten erzählen, Singen und Rätsel, ist für die Entwicklung des Kindes sehr wichtig.“

Sensomotorik und höhere Denkprozesse hängen unmittelbar zusammen

Der deutsche Hirnforscher Manfred Spitzer, auf dessen Videobeitrag ich hier hinweisen möchte, ist sich sicher, dass Eltern unterschätzen, wie wichtig die Sensorik und die Motorik für die Entwicklung des Denkens sind. Er erklärt das gut verständlich: Im Gehirn gibt es viele Bereiche, die keine direkte Verbindung mit der Außenwelt haben. Diese werden vielmehr versorgt mit Mustern, also mit Erregungen von der Sensorik und sie geben letztlich Erleben an die Motorik ab. Ich sehe etwas und greife hin. Und wenn das Kind das macht, dann werden die Verbindungen vom Sehen zum Denken zum Greifen überhaupt erst geschaffen. Wenn die nicht geschaffen werden, weil das Kind gar nicht mehr sinnvoll tastet, also einen Stift in die Hand nimmt und rumprobiert, was man damit machen kann, sondern zum Beispiel nur über eine eigenschaftslose Oberfläche wischt, dann wird das Denken in seiner Feinheit, das das Drehen des Stiftes bewirken würde, gar nicht trainiert. Also, immer wieder über eine eigenschaftslose Glasoberfläche zu wischen unabhängig von dem Bild immer die gleiche Handbewegung zu machen, ist der Tod für sensomotorisches Training und damit auch der Tod für höhere Denkprozesse.

Seine aufrüttelnde Konklusion daraus: „Wer sein Kind viel wischen lässt in jungen Jahren, muss sich nicht wundern, wenn dessen Bildungskarriere als Putzfachkraft endet.“

Mit einem Jahr können Kinder Inhalte von den realen Gegenständen (wie dem TV Gerät oder dem Tablet) unterscheiden und wischen oder tippen. Das lernen sie so schnell und so gut, dass sie dafür das Greifen verlernen können. Kindergärtnerinnen berichten, dass es keine Seltenheit mehr ist, dass Kleinkinder kein Buch halten können oder, wenn sie ein Buch sehen, darüber wischen anstatt umzublättern. Ein Zuwenig an Greifen wirkt sich nicht nur auf die Stifthaltung aus, sondern auf die gesamte Motorik und Sensomotorik und damit auf die Fähigkeit, komplexe Denkvorgänge durchführen zu können.

Ein heißer Tipp: Bücher statt Tablet

Auf dieser Grundlage hat das Portal für Kindergesundheit „kindergesundheit-info.de“ folgende Empfehlung herausgegeben:

Für Kinder von 0 bis 3 Jahren sind Bilder- und Rätselbücher die optimalen Medien. Optimal ist ein gemeinsames Anschauen und Vorlesen, das Fragen stellen, eventuell dazu ein Lied singen, wenn es passt. Dafür sollte auf sämtliche Bildschirmmedien von Fernsehen und Video, über Computer und Spielkonsole bis hin zu Tablets und Smartphones vollkommen verzichtet werden!

Aber wie finde ich dann das richtige Buch? Am besten gemeinsam.

Wenn Du das Vorlesen zu einem Erlebnis machst, werden nicht nur die oben genannten Vorteile auf Dein Kind wirken, sondern viele andere mehr noch. Das richtige Buch zur richtigen Zeit kann eine magische Wirkung entfalten. Zu einem Erlebnis wird es aber nur dann, wenn Dein Kind das Buch mag. Deshalb lass es mitbestimmen oder am besten selbst aussuchen, was es lesen möchte.

Dafür musst Du nicht darauf warten, bis es so gut sprechen kann, dass es mit Dir darüber diskutiert oder bis es selbst lesen kann. Meistens ist es ausreichend, Deinem Kind mehrere Bücher, die Du selbst ansprechend findest, vorzulegen, vielleicht gemeinsam durchzublättern. Wenn Du achtsam auf seine Reaktionen bist, wird es Dir nicht schwer fallen zu erkennen, welches Buch es am meisten anspricht. Auf diese Weise kannst Du sicher sein, dass es Euch beiden gefällt.

Viele Büchereien verfügen über ein reichhaltiges Angebot an Kinderbüchern. Anstatt bei Regenwetter zu Hause zu bleiben, kann man sich stundenlang in öffentlichen Büchereien umschauen, gustieren und gleich vor Ort gemeinsam lesen. Was gibt es Schöneres, als sich gemütlich zusammenzukuscheln und in einem Klassiker zu schmökern oder ein neues Werk zu entdecken.

Viele Eltern machen sich heute von Anfang an Gedanken, wie sie sichere Bindung unterstützen können, wie das Urvertrauen gefördert werden kann. Mit dem Erlebnis Vorlesen legst du noch ein Schäuflein Bonding nach, denn nichts kann die Wirkung körperlicher Nähe und gemeinsam authentisch auf eine Sache gerichteter Aufmerksamkeit ersetzen.

Besonders spannend kannst Du das Buch durch den Einsatz von Lauten, Reimen, einem Lied, Kniereiter, Fingerspiel oder einfachen Gebärden gestalten – Entertainment pur für Dein Kleines! Denn je mehr Sinneskanäle eine Tätigkeit bei Deinem Kind gleichzeitig aktiviert, desto interessanter ist sie. Einfache Handzeichen basierend aus der Kommunikationswelt der Gehörlosen helfen auch Deinem Kind, die Schlüsselwörter im Satz besser zu verstehen. Wenn Dein Kind sie immer wieder und wieder sieht, beginnt es, selbst seine Hände zu benutzen, um ausdrücken zu können, was es denkt und will.

Gibst Du Deinem Kind die Möglichkeit sein neues Lieblingsbuch selbst auszusuchen und unterstützt das Verständnis obendrein noch mit Gebärden, wird es noch ein Stück genauer zuhören und genauer aufpassen. Beim Vorlesen aufmerksam bleiben zu können, also sich dieser einen Sache zu widmen, ohne nebenbei noch etwas anderes zu tun, ist eine wichtige Fähigkeit, die leider unterschätzt wird.

Vielleicht gehört zu Eurer Junior-Bibliothek jetzt schon die Kleine Raupe Nimmersatt, vielleicht auch die Eule mit der Beule, „Der Grüffelo“ oder ein Wimmelbuch wie Max Maus in der Stadt. Auch „Weißt Du eigentlich wie lieb ich Dich hab?“ wurde in den letzten Jahren zum Klassiker.

Solltet Ihr demnächst mal in eine Bücherei oder ein Buchgeschäft kommen, dann „frag“ doch mal Dein Kind, was es vom „Teddybuch“ der Zwergensprache, von „Gute Nacht, Gorilla“, vom „Katzentatzentanz“ oder vom „Kleinen Ich bin Ich“ hält. Diese gehörten zu meinen ganz persönlichen Favoriten.

Für mehr Vorschläge zu altersgerechten Büchern, findest Du Empfehlungen in „1001 Kinder- und Jugendbücher – Lies uns, bevor Du erwachsen bist“ von Julia Eccleshare (Autor), übersetzt von Stefanie Kuballa.

Ganz besondere Leseerlebnisse bieten Dir und Deinem Kind die Bücher von Renate Sell in denen sie ihre Geschichten mit Musik und Tanz, Ausdruck, Anregungen für die Sinneswelt, Psychologie, Traum, Kraft und Liebe kombiniert.

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PNG – 010-YOUTUBE Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0