Der Weisheit letzter Schluss: Menschengemachte Unmenschlichkeit

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick KW 36/23

Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie von Menschen gemachte Systeme in die Unmenschlichkeit abdriften (können) ohne dass diese Tatsache korrigiert wird, obwohl es tatsächlich auch zahlreiche gute Ideen gibt, diesen Zustand nachhaltig zu verändern.

Wie komme ich gerade in dieser Woche wieder einmal auf diese Gedanken?

Ausgehend von einer Kurzmeldung, in der die im seligen Österreich für Jugendagenden zuständige Staatssekretärin im Bundeskanzleramt, Claudia Plakolm, bekannt gibt, dass sie junge Männer für den Pflegeberuf begeistern will, in dem sie diesen während des Zivildienstes eine Zusatzausbildung anbietet, die ihnen mehr Rechte bei der Betreuung Pflegebedürftiger einräumt, habe ich ihr in einem E-Mail drei aus meiner Sicht wesentliche Fragen gestellt. Die wichtigsten Themen in diesem Zusammenhang sind für mich die Sorge um ein gesundes Leben (von Kindesbeinen an) sowie ein sinnvolles Leben im Alter bzw. im von der Gesellschaft verordneten Ruhestand. Ersteres bedeutet, dass es ein der Gesundheit zuträgliches Leben geben muss; also etwa eine gesunde Umwelt, eine stressfreie und gesicherte Existenz sowie lebensspendende Nahrungsmittel. Zweiteres wird durch eine Studie, die in 16 Ländern durchgeführt wurde, gezeigt. Darin kommen die Autoren zum Schluss: „Senioren und Seniorinnen, die ein Hobby pflegen, fühlen sich gesünder, zufriedener und zeigen weniger depressive Symptome als andere“, wie auf den blauen Seiten berichtet wird. Unser aktuelles Gesellschaftssystem bietet für diese menschlichen Bedürfnisse von der Jugend bis ins Alter zunehmend weniger Platz. Man sollte es also grundsätzlich hinterfragen und wieder auf „menschliche“ Schienen bringen – was derzeit allerdings nicht geschieht.

Vielmehr wird lieber an den Symptomen herumgedoktert und dafür solche Lösungen entwickelt, die alles und alle wieder zum Funktionieren bringen sollen. Dabei spielen oftmals auch Ärzte, Psychologen und Therapeuten mit, die sich munter in Richtung Unmenschlichkeit bewegen. Viktor Frankl, der Begründer der Existenzanalyse, hat im Hinblick auf ein gelungenes Leben eine richtungsweisende These entwickelt: Es gehe nicht darum, das Leben nach dem „Warum“ zu fragen, sondern die Fragen, die das Leben an einen stellt, angemessen zu beantworten. Daraus ergebe sich, so Frankl, der jeweilige Sinn, der in dieser Herausforderung liegt. Zudem gelte es eine der jeweiligen Situation angemessene Antwort zu finden. In der Fülle der auf diese Weise gesammelten Lebenserfahrungen ergibt sich letztendlich der „Gesamt-Sinn“ des eigenen Lebens, der so betrachtet also nicht von Anfang an und per se besteht. So auf das Leben zu schauen aber lernen wir nirgends, schon gar nicht in der Schule. Und das ist ein weiterer Skandal des Unmenschlichen in menschengemachten Systemen.

So ist es auch kein Wunder, dass die Flucht in die virtuelle Realität für eine wachsende Zahl von jungen Menschen eine brauchbare Exit-Strategie zu sein scheint. Einer Umfrage des Market-Instituts nach verbringt rund ein Drittel aller 11-18-Jährigen mehr als drei Stunden täglich im Internet, weitere knapp 40% zumindest eine bis drei Stunden. Persönliche Treffen spielten zwar auch noch eine Rolle, die Beschäftigung mit und in der digitalen Welt aber ist zur Hauptbeschäftigung dieser Altersgruppe geworden. In den Schulen, die sich bedingt durch die Erfahrungen in den „Pandemiejahren“ einen Digitalisierungsschub verordnet haben, soll dieser Tatsache mit Hilfe des neuen Fachs „Digitale Grundbildung“ begegnet werden. Schule – so wie wir sie heute erleben – verkennt dabei aber, dass die Flucht in die Virtualität auch dem geschuldet ist, dass der Lehrplan und der Fächerkanon sowie die Gestaltung der Schulstunden wenig bis nichts mit den Interessen und Bildungsbedürfnissen der Heranwachsenden zu tun haben. Das Schulsystem selbst ist diesbezüglich schon von Anfang an der Unmenschlichkeit zum Opfer gefallen. Es ist auch nicht in der Lage selbst zu lernen, nämlich aus den vielen Erfahrungen, die diesbezüglich im alternativen Bildungsbereich gesammelt wurden. Freie Schulen und Lerninitiativen werden vielmehr als Gottseibeiuns gebrandmarkt anstatt dort Erfolgreiches in ein Upgrade der Unterrichtsanstalten zu investieren. So ist es auch kein Wunder, dass der Internationale Tag der Bildungsfreiheit, der alljährlich am 15. September gefeiert wird, ein Schattendasein fristet und keinerlei Impulse für einen Restart der Bildungssysteme liefern kann.

Bildung ist ja immer auch mehr als Wissen, sie bräuchte dringend eine Integration der Herzensebene und des Humanistischen. Dann käme man möglicherweise auch zu anderen Schlussfolgerungen bei aktuellen Geschehnissen aus dieser Woche, wie:

  • der Flugblattaffäre in Bayern, die den dortigen Vizeregierungschef von den mit der CSU koalierenden Freien Wählern knapp vor der nächsten Landtagswahl beinahe aus dem Amt befördert hätte;
  • dem erstinstanzlichen Urteil gegen den ehemaligen Burgtheaterschauspieler Florian Teichtmeister, das „für manche ein Skandal – für andere eine Sternstunde der Justiz“ gewesen ist;
  • der Berichterstattung in den Medien, die wegen der ihr zugeschriebenen mangelnden Objektivität schon seit längerem in der Kritik steht, wozu die Wochenzeitung „Die Furche“ eine lesenswerte Analyse verfasst hat, in der statt „wahrer Nachrichten“ aufrichtige Nachrichten gefordert werden;
  • dem Drama um einen auf dem K2 tödlich verunglückten Sherpa, der vor einigen Wochen von zahlreichen Gipfelstürmern schwer verletzt liegen gelassen wurde, weil man annahm, dass er schon verstorben wäre und
  • dem G20-Gipfel, der das Trennende vor das Gemeinsame stellte und in diesem Setting wohl auch kein anderes Ergebnis liefern konnte.

In den USA, dem „Mutterland“ der westlichen Demokratie, ist es in realiter nicht möglich, dass sich selbst bei den „Demokraten“ ein demokratischer Vorwahlkampf entwickelt, womit sich der vom Establishment wegen seiner „alternativen“ Sichtweisen äußerst kritisch beäugte Robert F. Kennedy Jr. nunmehr zu einer unabhängigen Kandidatur entschließen will.

Die Unmenschlichkeit bestehender Systeme, die der österreichisch-amerikanische Pädagoge, Theologe und Philosoph Ivan Illich bereits in den 1970er-Jahren kritisiert hat, zeigt sich auch im bestehenden Wirtschafts- und Geldsystem. Diesem ist es zu verdanken, dass die Oberösterreichischen Nachrichten in einer Analyse zur bevorstehenden Metaller-Lohnrunde bereits vorweg von einem unlösbaren gordischen Knoten sprechen. Hier zeigt sich auch die „Henne-Ei-Problematik“, denn beide Seiten können der jeweils anderen vorwerfen, für die Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation befördert, verantwortlich zu sein. Dabei ist diese systemimmanent. Das System wiederum ist aber weder gottgegeben noch naturbedingt, sondern von Menschen gemacht. Und es kann daher auch von Menschen so geändert werden, dass es allen Menschen gerecht wird. Dass die aktuell Machthabenden allein schon bei solchen Gedanken „Revolution“ rufen, zeigt bloß wie gefährlich ihnen Überlegungen wie diese sind.

Das sollte uns aber eher antreiben, die notwendigen Veränderungen in die eigenen Hände zu nehmen, als uns von solchen Zuschreibungen davon abhalten zu lassen. Denn – so bringt es ein afrikanisches Sprichwort auf den Punkt: „Wenn viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, dann verändert sich das Angesicht der Welt.“

Dem möchte ich abschließend noch hinzufügen: Und nur dann!

Bildrechtelink zum Foto von Robert Kennedy Jr.:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Robert_F._Kennedy_Jr._by_Gage_Skidmore.jpg

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