Europa – Was jetzt ? (Waldviertel Akademie, 36. Internationale Sommergespräche 2020)

Politik

Veranstaltungsdaten

Datum
4. 9. 2020
Veranstalter
Waldviertel Akademie - Sommergespräche 2020
Ort
Gmünd
Veranstaltungsart
Podiumsdiskussion

Am zweiten Tag der 36. Internationalen Sommergespräche der Waldviertel Akademie begrüßt Bürgermeisterin Helga Rosenmayer Publikum und Diskutanten: sie freut sich, daß Gmünd durch die Grenzöffnung nach dem Fall des eisernen Vorhangs ins Zentrum Europas gerückt ist und man mit den Nachbarn zahlreiche Projekte umsetzen konnte.

Die Autorin und ehemalige Außenministerin Österreichs Dr. Karin Kneissl stellt sich zu Beginn die Frage, ob das Ansinnen der neuen EU-Präsidentin Ursula von der Leyen, die EU zu einem geopolitischen Machtfaktor zu machen, überhaupt jemals auf dem Plan dieser Institution stand; und wie kann die EU ihre Macht (angesichts der zahlreichen unterschiedlichen Positionen ihrer Mitglieder) in den diversen Konfliktherden (Libyen, Belarus etc.) überhaupt ausüben? Kneissl geht an Hand einer Weltkarte aus den 90ern auf die Entwicklungen seit damals und auf mögliche künftige Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen Machtgefüge ein. Danach wendet sie sich dem Begriff Geopolitik und dessen unterschiedlichen Definitionen zu.

Für Kneissl ist Geopolitik immer auch Realpolitik: man muß sich mit den Gegebenheiten auseinandersetzen, wozu zB auch gehört, mit ungeliebten Staatschefs zu sprechen. Mit dem Begriff dosierte Globalisierung, der immer öfter von EU-Vertretern verwendet wird, kann die Ex-Politikerin wenig anfangen – denn entweder ist man globalisiert, oder nicht. Österreich hätte durch Deglobalisierung jedenfalls sehr viel zu verlieren, da wir an 7. Stelle im Globalisierungsranking stehen.

Ohne die kriegerischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts hätte Europa nie zueinandergefunden, ist der ehemalige tschechische Ministerpräsident Dr. Vladimir Spidla überzeugt. Geschichtliche Prozesse sind zwar moderier-, aber nicht lenkbar. Komplexe, globale Probleme (zB Klimawandel) werden künftig nicht auf nationaler Ebene gelöst werden können – dafür werden wir Europa benötigen. Europa muß seine Eigenständigkeit unabhängig von Russland, China und den USA betonen, auch wenn es Teil der Weltgemeinschaft ist. Für Spidla gehört Nordafrika historisch bis zur Subsahara zu Europa – eine Kooperation wäre in beiderseitigem Interesse. Wenn sich Europa abschottet, wird es seine Seele verlieren, so der ehemalige EU-Kommissar. Multilateralismus ist im Interesse Europas, auch um Kriege abzuwenden. Wenn es dennoch dazu käme, hätte Europa (wenn man zusammenarbeiten würde) die zweitgrößte Streitmacht der Welt.

In Europa wird es zu Umverteilungen kommen müssen, wenn man die Eurozone erhalten will, so Spidla. Das EU-Budget muß vergrößert werden – aber nicht ohne die Stärkung der europäischen Institutionen.

Auf Grund der Komplexität der heutigen Probleme stoßen wir immer öfter an die Grenzen politischer Steuerbarkeit, so die Politikwissenschafterin Dr. Martina Handler. Die gesamte Gesellschaft müsse zur Problemlösung herangezogen werden, da es zahlreicher unterschiedlicher Kompetenzen bedarf. Die zunehmende Entfremdung zwischen Bürgern und Politik (Vertrauensverlust) drückt sich in der Bildung von (oftmals populistischen) Bewegungen und Initiativen außerhalb der politischen Parteien aus. Gleichzeitig ist festzustellen, dass immer mehr Menschen den politischen Prozess mitbestimmen und sich nicht einfach top-down-Anweisungen unterwerfen wollen. Oft wird dieses Engagement abseits althergebrachter Ideologien gesucht. Die Polarisierung bzw. auch die Blasenbildung in allen Gesellschaften wird durch SocialMedia verstärkt und erschwert demokratische Aushandlungsprozesse massiv. Für letztere steht in der beschleunigten Welt immer weniger Zeit zur Vefügung – die aber notwendig wäre, um weithin akzeptierte Lösungen zu finden.

Handler stellt drei vielversprechende Handlungsmodelle für die erfolgreiche „Partizipation der Vielen“ in politischen Prozessen vor: die citizens assembly in Irland, den Klimarat in Frankreich und die Vorarlberger Bürgerräte. Erfolgreich sind all diese Modelle, weil Menschen, wenn sie zusammenkommen und gemeinsam diskutieren, Polarisierungen überwinden können und sich von Argumenten überzeugen lassen – und so (durch gegenseitiges Zuhören) zu gemeinsamen, neuen Lösungen finden. Gerade für zwischen den Parteien hoch umstrittene (und meist auch hochemotionale) Themen eignen sich diese partizipativen Lösungsmodelle (zB Aufnahme von Flüchtlingen in Vorarlberg).

Unter der Moderatorin Mag. Eva Pfisterer diskutiert das Panel untereinander und mit dem Publikum über zahlreiche europäische und internationale Themen: die Ablöse der transatlantischen durch die pazifische Weltordnung und die Rolle Europas dabei, den fehlenden Bildungshunger und das viel zu starre europäische Bildungssystem, das Verhältnis NATO und europäische Verteidigungsinitiative, den Ausverkauf der europäischen Wirtschaft, und vieles mehr.

Credits

Image Title Autor License
Diskussion Tag 2 Wavak Wolfgang Müller CC BY SA 4.0