Der Weisheit letzter Schluss: Unsägliche Sager

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick KW 39/23

Betrachtet man das Weltgeschehen der letzten Woche, dann kommt sie einem wie ein Monat vor. Der von mir kürzlich prognostizierte „heiße Herbst“ nimmt nun tatsächlich Fahrt auf. Treiber dieser nicht nur von mir empfundenen „Erhitzung“ der Debatten sind mit Sicherheit die innerhalb eines Jahres bevorstehenden Wahlen, u.a. jene zum EU-Parlament oder zum österreichischen Nationalrat. Damit beginnt nicht nur das große Sesselrücken bzw. das Festkrallen an denselben, sondern auch die Zeit „fokussierter Unintelligenz“, wie der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl 2005 bezüglich des Wahlkampfs seiner eigenen Partei SPÖ konstatierte. Und das gilt auch noch knapp 20 Jahre später – in kurzen Worten: Nichts dazugelernt.

Wo aber beginnen bei der Vielzahl von Ereignissen?

Vielleicht bei etwas Grundlegendem, nämlich dem Bildungssystem. Im Absatz 1 des §2 des Schulorganisationsgesetzes (SchOG), der gerne auch als „Zielparagraph“ des Schulsystems bezeichnet wird, heißt es: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend … nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen … mitzuwirken.“ So weit, so idealistisch. Wenn man die von mir mit drei Punkten markierten Auslassungen einfügt und den weiteren Ausführungen folgt, dann zeigt sich, dass der Idealismus schon damit zur Utopie erklärt wird. Da ist nämlich die Rede von Unterricht – was zeigt, dass die Mitwirkung doch eher Wirkung von oben herab erzielen möchte – und von der Heranbildung der jungen Menschen zu „gesunden und gesundheitsbewussten, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft“ – womit wohl das Funktionstüchtigmachen der Heranwachsenden gemeint ist. Die dann formulierten weiteren, dann wieder idealistischen Ziele fügen sich nahtlos in das Paradoxe dieser Ausführungen ein, in einem Land, in dem das Recht auf Bildung durch eine Unterrichts- bzw. Bildungspflicht gewährt wird. Von selbständigem Urteil ist da die Rede, ebenso von einem „dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein“ sowie der Hinführung, um „in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.“ Der Widerspruch zwischen diesen Formulierungen und der Realität könnte nicht größer sein.

Die titelgebenden unsäglichen Sager sind Symptome dieses Widerspruchs. Da wird am Stammtisch bzw. in der Vinothek auch von Regierungsmitgliedern bzw. dem Bundeskanzler über die Menschen hergezogen, um sich beim nächsten Interview oder der aktuellen Pressekonferenz wieder staatstragend zu geben. Blöd nur, dass im Zeitalter der Digitalisierung auch der Stammtisch globalisiert wurde und die Worte nicht nur die dort versammelte Runde erreichen, sondern in die ganze Welt hinausgetragen werden. Auch bei den deutschen Nachbarn gibt es dieses Phänomen, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat sich diesbezüglich vor kurzem in die Nesseln gesetzt bzw. bewusst seine vermeintliche Klientel bedient. Ich möchte die von mir hier kryptisch zitierten Ereignisse nicht aufwerten, in dem ich sie hier im Detail darstelle. Sie sind zu grauenhaft und menschenverachtend und zeugen offenbar davon, dass entweder unser Bildungssystem völlig versagt hat oder nur jene an die Macht kommen, die sich dessen Zielen völlig verweigert haben. Es könnte auch eine unselige Mischung aus beidem sein. Meine einstmals politisch engagierte Gattin hat in einem Grundlagenseminar ihrer Gesinnungsgemeinschaft am Anfang ihrer kurzen lokalpolitischen „Karriere“ erfahren, dass es geboten sei, Macchiavelli zu studieren, um politisch erfolgreich sein zu können. Für die, die lieber schauen statt lesen, tun es auch die dänische Fernsehserie „Borgen“ oder deren US-amerikanisches Pendant „House of Cards“.

Vielleicht könnte man auch die Sager diverser österreichischer Politiker anlässlich der Verleihung des diesjährigen Physik-Nobelpreises an den ungarisch-österreichischen Doppelstaatsbürger Ferenc Krausz mit dem Prädikat unsäglich versehen. Der Bundespräsident jubelte („Diese Auszeichnung ist eine besondere Ehre für die Wissenschaft in Österreich und Europa.“) ebenso wie der Bundeskanzler („Österreich wird dank solch innovativer Wissenschaftler auch weiterhin ein wichtiger Forschungs- & Zukunftsstandort sein.“) oder der Bildungsminister („Mit ihm wurde innerhalb von nur zwei Jahren der zweite Wissenschafter mit Wirkstätte in Österreich mit dem Nobelpreis in Physik ausgezeichnet.“).

Zu blöd nur, dass Ferenc zwar an der TU Wien promoviert und dort auch von 1999 bis 2002 als ordentlicher Professor wirkte. Seine Grundausbildung hat er aber an der Eötvös Loránd Universität Budapest und an der Technischen Universität Budapest erhalten, seit 2003 wirkt er in Deutschland als Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und als Professor für Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dass er noch immer Kontakt zu jener Wiener Gruppe an der TU Wien hält, mit der er 2001 die Attosekundenphysik begründete, mag den Österreich-Bezug rechtfertigen. Die Jubelmeldungen und die Vereinnahmung der Politiker aber bekommen ob dieses Lebenslaufes allerdings einen schalen Beigeschmack.

In Bezug auf die ewige Baustelle Bildungssystem und die Lobeshymnen auf den Wissenschaftsstandort Österreich habe ich ein E-Mail aus der Redaktion an den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung abgeschickt, wohlwissend, dass Regierungsmitglieder – wenn überhaupt – nur Anfragen beantworten, die von Abgeordneten im Rahmen des parlamentarischen Prozesses oder von Journalisten der „Leitmedien“ gestellt werden. Einen Versuch ist es auch diesmal wert, ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich in diesem Zusammenhang die von den Spin-Doktoren der den Regierungschef stellenden ÖVP entwickelte Vorwahlkampagne, die sich an den historischen Worten des ersten Bundeskanzlers nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. der viele Jahre später neu gegründeten Zweiten Republik Leopold Figl orientiert – um nicht zu sagen vergreift. Glaubt an Österreich will man uns glauben machen und vergisst dabei, dass die Glaubwürdigkeit des Landes ganz massiv dadurch Schaden genommen hat, dass die verantwortlichen Volksvertreter sich dieses Vertrauens nicht würdig erweisen wie auch der Vertrauensindex von Juni 23, den OGM regelmäßig erhebt, beweist. Nun sind solche Erkenntnisse leider immer auch Wasser auf die Mühlen der Populisten aller Richtungen und Lager, denen aufgrund ihrer Auftritte und der Erfahrungen mit ihnen in Regierungsverantwortung allerdings das Vertrauen längst entzogen werden hätte müssen. Was es wirklich braucht ist kein neuer Anführer, der den Karren aus dem Dreck zieht, sondern beherzte und gebildete Bürger, die sich gemeinsam an diese große und herausfordernde Aufgabe machen, die Gesellschaft gerecht und menschlich zu organisieren. Nicht der Stammtischspruch ist gefragt, sondern das handfeste Anpacken und Mitwirken an den notwendigen Veränderungen – lokal und regional, ohne aber den Blick auf das große Ganze zu vergessen.

Unsäglich auch jene Rechtfertigungen, die der Klubobmann der ÖVP August Wöginger fand, um das „irrtümlich“ an die NEOS verschickte interne Papier einen Untersuchungsausschuss gegen den eigenen Koalitionspartner betreffend zu erklären. Populistisch und wenig vertrauenserweckend auch die von der NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger dazu kurzfristig einberufene Pressekonferenz, die natürlich der Transparenz geschuldet war, allerdings eher die Anmutung hatte, dass man baldige Neuwahlen vom Zaun brechen wollte.

Unsäglich auch die Aufregung um das ebenfalls „geleakte“ Strategiepapier des Meinungsforschers Günther Ogris für die SPÖ, woraufhin der ORF die langjährige Zusammenarbeit mit dessen Meinungsforschungsinstitut SORA beendete.

Was Politiker mit ihren Aussagen bewirken ist also oftmals tatsächlich weltbewegend – und um so vorsichtiger und bedachter sollten diese auch ausfallen. Hat man nämlich wirklich den (sozialen) Frieden zum Ziel, dann gilt es diesem auch eine Chance zu geben, in dem man sich zumindest einmal verbal wirklich dafür einsetzt. Auf der großen Weltbühne scheint dies aber kaum realisierbar, vielmehr scheint es eher zu einer weiteren Eskalation in bereits schwelenden Konflikten zu kommen. Friedensinitiativen im Ukraine-Russland-Konflikt werden den Russland-Freunden zugeschrieben oder durch Worte wie jene der deutschen Außenministerin („Wir haben erlebt, dass mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist“) in ihrer Umsetzung verunmöglicht. Den Serben wird – zurecht oder zu Unrecht, das lässt sich in der Propagandaschlacht, die alle Kriege begleitet, nicht stichhaltig herausfinden – unterstellt, dass sie den Konflikt mit dem Kosovo so weit eskalieren lassen wollen, dass ein neues Schlachtfeld für die NATO und die europäischen Verbündeten entsteht, um Russland Zeit zum Durchschnaufen zu geben. Die in Zusammenhang mit den Kriegsereignissen im Osten Europas stehende Sprengung der Nord-Stream-Pipeline ist auch ein Jahr nach dem Ereignis nicht geklärt. Das hat den Investigativjournalisten Seymour Hersh veranlasst, das Thema in einem Posting auf Substack noch einmal aufzugreifen und an die Öffentlichkeit zu bringen. Doch wir wissen, wie schwierig es ist, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, denn: „Wenn es ernst wird, muss man lügen“, zitierte die deutsche Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ im Jahr 2011 den ehemaligen EU-Kommisionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Auch daran hat sich bis heute wohl nichts geändert.

In der Slowakei ist der ehemalige Regierungschef und Sieger der Parlamentswahlen vom Wochenende Robert Fico mit der Bildung der neuen Regierung beauftragt worden. Er möchte die Ukraine-Hilfe seines Landes einstellen und die Flüchtlingsproblematik lösen. Prompt begannen wenige Tage danach Grenzkontrollen der Nachbarländer Polen, Tschechien und Österreich, um „illegale Flüchtlingsströme“aus der Slowakei zu unterbinden.

Womit wir wieder am Anfang meines Beitrags und den Worten des österreichischen Schulorganisationsgesetzes (SchOG) angelangt wären, dessen Intentionen mit den Mitteln des Systems regelmäßig zunichte gemacht werden. Diese sind aber auch bereits im Gesetzestext implementiert, weil er den anfangs beschriebenen Zirkelschluss enthält.

Dass die Hoffnung nicht ganz verloren ist, zeigen aber Persönlichkeiten, die tatsächlich die Welt bewegen und die sich trotz der Mängel des Bildungssystems zu Pionieren und Erneuerern entwickelt haben – nicht zu selten auch auf selbstbestimmten Bildungswegen. Und diese stehen eigentlich jedem offen. Es braucht dafür halt ein bisserl mehr als Stammtischsprüche und Gejammere. Von denen, die bereit sind, sich – im Sinne des SchOG – auf die eigenen Füße zu stellen, wird letztendlich die ganze Gesellschaft profitieren.

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Karl Nehammer:

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Wolodymyr Selensky:

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